Positionen

Leitantrag des Landesdelegiertentages 2021 in Hameln

Starke Kinder, starke Gesellschaft - Konsequenzen aus der Pandemie für den Kinderschutz | beschlossen am 10.07.2021

Die Corona-Pandemie hat alle Bereiche der Gesellschaft vor Herausforderungen gestellt. Die Situation eines Lockdowns war noch vor dem März 2020 unvorstellbar. Mitte März 2020 schlossen erstmalig Schulen und Kitas sowie die Einrichtungen der Jugendhilfe und alle Freizeitangebote für Kinder. Heute zeichnet sich ab, dass die schlimmsten Ausmaße einer gesundheitlichen Katastrophe einer Pandemie verhindert werden konnten. Dennoch werden massive soziale Herausforderungen sichtbar, die bereits vor dem Lockdown existierten und die sich durch die Pandemie verschärft haben. Der Kinder- und Jugendschutz ist eine dieser Herausforderungen. Dringender Handlungsbedarf ist geboten.

Seit 2016 steigen die in Niedersachsen bekannt gewordenen Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern an. 2020 zeigt sich ein weiterer Anstieg im Vergleich zum Vorjahr: Über 7 Prozent mehr Fälle werden registriert (1.747 Fälle insgesamt; + 118 Fälle). Die Delikte in Zusammenhang mit der Verbreitung von kinder- und jugendpornografischem Material stiegen sprunghaft um 33% auf 3.357 Fälle an. Das Dunkelfeld ist vermutlich noch wesentlich größer. So ging der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, bereits vor dem Lockdown davon aus, dass in jeder Schulklasse “schätzungsweise ein bis zwei Kinder (sitzen), die sexuelle Gewalt erlebt haben“ (Spiegel 09/2019). Dass der Lockdown die Situation insbesondere in Bezug auf die Verbreitung, den Erwerb und Besitz sowie die Produktion von kinderpornografischem Material massiv verschärft hat, zeigen ebenfalls die bundesweiten Zahlen. Insgesamt stiegen die
Fälle im Jahr 2020 um 53 % auf 18.761 Fälle an (Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundes, 2020). Eine ähnliche Tendenz zeigt sich auf europäischer Ebene. Laut Europol ist im ersten Corona-Lockdown der Konsum von Missbrauchsabbildungen um rund 30 % gestiegen. Darüber hinaus registrierte man, laut Angaben der EU Kommission, im April 2020 einen Anstieg von mehr als 400 % bei verdächtigen Fällen: Waren es im April 2019 noch rund 1 Mio. Fälle, so lag die Zahl im April 2020 schon bei über 4 Mio. Durch Lockdown, Homeschooling und weniger Freizeitaktivitäten seien nach Angaben der Kommission, die Kinder den Gefahren im Internet vermehrt ausgesetzt. Gleichzeitig seien auch mehr Täter durch den Lockdown im Netz aktiv.

Niedersachsen verfügt über eine ausgebaute Struktur des Kinderschutzes sowie der Jugendhilfe. Neben den Jugendämtern in kommunaler Trägerschaft gibt es vier Kinderschutzzentren und eine Kinderschutzambulanz. Landesweit arbeiten 21 Beratungsstellen im Bereich von Gewalt gegen Kinder und 43 Beratungsstellen für Mädchen und Frauen gegen sexuelle Gewalt. Dennoch brauchen nach Angaben von Julia von Weiler vom Kinderschutzverein Innocence in Danger „Kinder auch heute noch bis zu acht Anläufe, bevor ihnen eine erwachsene Person glaubt, dass sie missbraucht werden“ (Interview Deutschlandfunk vom 11.10.2017). Eine Überforderung der bestehenden Strukturen durch einen sprunghaften Anstieg der Missbrauchsfälle und eine neue Dimension der Täterorganisation im Internet werden deutlich. So sprach Johannes-Wilhelm Rörig in Zusammenhang mit den Fällen von Lügde, Münster und Bergisch Gladbach, in denen die Täter jahrelang mit den Behörden in Kontakt standen, von „pandemischen Ausmaßen des sexuellen Missbrauchs“ und Niedersachsens Justizministerin Barbara Havliza stellte fest, dass sich im Internet „immer neue Netzwerke, die nach immer mehr Material verlangen und dadurch weitere Taten verursachen“ bilden (NDR, 26.05.2021).

Auf den systematischen Missbrauch von 34 Kindern in Lügde erstellte das Ministerium für Justiz unter ihrer Führung den sogenannten „Lügde-Bericht“ mit 44 Handlungsempfehlungen, um Lehren zu ziehen, Betroffenen Hilfe zukommen zu lassen und ein katastrophales Versagen staatlicher Institutionen nachhaltig zu verhindern.
„Der Kinderschutz in Niedersachsen sieht sich einem Knäuel aus unterschiedlichen Zuständigkeiten und Schnittstellen gegenüber“, stellte der Niedersächsische Landtag im Antrag „Gewalt gegen Kinder: Kinderschutz weiterentwickeln – Beratung stärken!“ am 18.02.2021 fest. Trotz eines gut ausgebauten Netzes an Kinderschutzeinrichtungen und Jugendhilfe, waren Fälle wie Lügde, Bergisch Gladbach und Münster möglich. Sie zeigen, dass „die bisherigen Anstrengungen des Kinderschutzes offenbar nicht ansatzweise ausreichen“ und „ein gesamtgesellschaftlicher Pakt gegen Kindesmissbrauch“ notwendig sei (Petra Joumaah MdL (CDU)). Der Niedersächsische Landtag richtete in der Folge eine Enquete-Kommission Kinderschutz ein, deren Arbeit weiterhin läuft.

Unser Anspruch:

Niedersachsen muss das kinderfreundlichste Bundesland werden. Kinder wollen in ihren Familien sicher und gut leben, sie brauchen gute Chancen auf Bildung und Teilhabe und eine gesunde Entwicklung – egal wo sie in Niedersachsen aufwachsen. Kinder müssen vor Gewalt, sexualisierter Gewalt und Ausbeutung geschützt werden. Insbesondere vor dem Hintergrund explodierender Zahlen der Verbreitung und Herstellung kinderpornographischen Materials im Internet durch organisierte internationale Netzwerke braucht es eine neue Qualität im Kinderschutz und der mit
Kinderschutz beauftragten Behörden und Trägerorganisationen. Hier gilt ein Dreiklang aus Prävention, Aufklärung und Strafverfolgung. Staatliche Strukturen müssen so organisiert sein, dass das Wohl des Kindes, das gefährdet ist oder bereits Opfer von Gewalt oder Missbrauch wurde, im Mittelpunkt steht. Dafür setzen wir uns ein.

Was sich ändern muss: Staatliche Strukturen

Zuständigkeiten bündeln und Strukturen anpassen:
Die dezentrale Organisationsstruktur steht einem effektiven Kinderschutz im Wege. So führt das Sozialministerium keine Aufsicht über die Jugendämter. „Niemand kann den Jugendämtern vorschreiben, wie sie ihre Aufgaben wahrnehmen. Auch das Landesjugendamt hat keine Aufsicht über die örtlichen Jugendämter“, heißt es auf der Homepage des Sozialministeriums in einfacher Sprache. So können gravierende Fehler, wie sie unter anderem im Fall Lügde passiert sind, nicht durch eine übergeordnete Behörde erkannt und behoben werden.
Die Aufsicht im Rahmen der Jugendhilfe muss optimiert werden. Mittelfristig muss das Ziel sein, dass die Fach- und Rechtsaufsicht in den Händen des Landes Niedersachsens liegt. Die Einrichtung eines Ministeriums, das die beiden im SGB VIII geregelten Bereiche frühkindliche Bildung und Kinderschutz bündelt, ist zu prüfen. Unser Anspruch muss sein, dass Ministerien und Jugendämter, Kitas, Tagespflegestellen, Schulen, Jugendarbeit und Kinder- und Jugendhilfe, Polizei und Justiz lückenlose Präventionsketten aufbauen, die bei ersten Anzeichen von
Missbrauch oder Kindeswohlgefährdung handlungsfähig sind. Die Mitteilungspflicht der Jugendämter an das Land muss bereits bei der Kenntnis der Gefahr einer möglichen Kindswohlgefährdung ausgelöst werden. Das Landesjugendamt richtet eine zentrale Stelle gegen Kindesmissbrauch ein. Die Standards für die Jugendhilfe werden niedersachsenweit vereinheitlicht. Die Kooperation zwischen den Jugendämtern aller Landkreise muss verpflichtend werden. Prozesse müssen angeglichen werden, auch länderübergreifend.
Datenschutz darf Kinderschutz nicht verhindern. Entsprechende Anpassungen müssen erfolgen.
Die Arbeit der Koordinierungsstelle der Frauen- und Mädchenberatungsstellen gegen (sexualisierte) Gewalt muss durch das Sozialministerium aus dem Projektstatus in die Regelstrukturen überführt werden.

Was sich ändern muss: Bereich Bildung

Schutzkonzepte gegen Gewalt und sexualisierter Gewalt an Kindern müssen in jeder Schule und jeder Kindertageseinrichtung erstellt werden. Das Land stellt hierfür entsprechende Ressourcen zur Verfügung und bietet Hilfestellung bei der Erarbeitung von Schutzkonzepten. Hierzu gehört auch eine altersangemessene und kindgerechte Aufklärung über die Thematik, mit dem Ziel der Persönlichkeitsstärkung des Kindes.
Es erfolgen Fortbildungen aller pädagogischen Fachkräfte, Lehrerinnen und Lehrer sowie Schulleitungen zur Sensibilisierung gegenüber betroffenen Kindern und Familien.
In die bestehende Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern und Erzieherinnen und Erziehern, sowie pädagogischen Fachkräften werden entsprechende Inhalte integriert.

Was sich ändern muss: Bereich Internet und Medien

Die Gefahrenabwehr muss dahin, wo die Kinder und Jugendlichen sind! Dies betrifft immer mehr auch die Sozialen Netzwerke und Online-Spiele. Die Landesregierung wirkt darauf hin, dass mit der Games-Industrie effektive Maßnahmen erörtert werden, um den Kinderschutz bei Online-Spielen zu gewährleisten. Hierzu gehört auch die Einführung einer wirksamen Altersüberprüfung.
Die Aufklärungsarbeit mit Eltern über effektiven Kinderschutz im Netz wird gestärkt.

Was sich ändern muss: Bereich Polizei und Justiz

Eine Kompetenzbündelung bei den Staatsanwaltschaften muss erfolgen, um Ermittlungen gezielter zu koordinieren und Verfahren zu beschleunigen. Die Verfahren müssen kinderfreundlich durchgeführt werden, damit eine doppelte Opferrolle verhindert wird.
Das Personal bei Polizei und Justiz muss aufgestockt werden und der Einsatz künstlicher Intelligenz ermöglicht und verstärkt werden. Ermittlungen dürfen nicht daran scheitern, dass Durchsuchungsbeschlüsse nicht vollstreckt und Datenträger nicht ausgewertet werden oder tausende Akten bundesweit auf Halde liegen, weil es keine Kapazitäten für ihre Bearbeitung gibt.
Ermöglichung der Vorratsdatenspeicherung: Tausende Hinweise auf Kinderpornografie führen nicht zur Ermittlung der Täter, weil die vom Provider mitgelieferten IP-Adressen mangels in Deutschland praktizierter Vorratsdatenspeicherung bereits gelöscht sind und eine Identifizierung der Täter damit nicht möglich ist. Eine angemessene und zielgerichtete
Vorratsdatenspeicherung zur Verfolgung von Tätern muss ermöglicht werden. Die internationale Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden weltweit muss verbessert werden, auch um die stetige Verbesserung der Detektionstechnologien im Internet zu unterstützen. Europol muss gestärkt werden.

Was sich ändern muss: Beteiligung und Stärkung von Kindern

Starke Kinder sind selbstbestimmt und bestimmen mit. In den Kommunen werden Kinderbeiräte für kinderrelevante Fragen eingerichtet, die die Partizipation von
Kindern ermöglichen und fördern.
Der Landtag unterstützt den Ausbau der „kinderfreundlichen Kommunen“ nach UNKinderrechtskonvention in Niedersachsen.
Der Landtag führt mindestens einmalig im Jahr eine Kinderlandtagssitzung durch bei der Kinder an den Sitzungen beteiligt werden (mit entsprechender pädagogischer Begleitung).

Wir fordern:

Die Frauen Union Niedersachsen fordert das Land und den Bund auf, die
notwendigen Änderungen
– in den staatlichen Strukturen
– im Bereich der Bildung
– im Internet und den Medien
– in der Polizei und Justiz
– sowie die Beteiligung und Stärkung der Kinder umzusetzen, damit wir unsere Kinder wirksam schützen und stärken.